Sehr lesenswert: Bundesrichter Fischer zur Praxis der Revisionsentscheidungen am BGH

Liebe Leser,

wer einmal die Gelegenheit hatte, in die Arbeitswirklichkeit deutscher Gerichte hineinzuschauen, der muss sie einfach mögen: Die wöchentliche Kolumne des sprachmächtigen Bundesrichters Thomas Fischer in der ZEIT.

Ich liebe es einfach, wie er es schafft, den Kollegen in wenigen Worten und so hinreichend verklausuliert, dass es nicht gleich auffällt, um die Ohren zu knallen, dass ihre geübte und so vehement gegen jegliche Veränderung verteidigte Arbeitsweise mindestens rechts-, ja wenn nicht gar verfassungswidrig ist.

Ein Beispiel? Hier:
"Das "Vier-Augen"-Prinzip ist daher selbstverständlich keine Erhöhung der Sicherheit, sondern eine eklatante Beschneidung der Kognitionsmöglichkeit von fünf Fünftel auf zwei Fünftel. Die Verwendung des Worts an dieser Stelle ist ein schönes Beispiel für sprachliche Verkommenheit, mit welcher ein eklatanter Mangel euphemistisch in sein Gegenteil umgedeutet wird."
Andererseits tut es ganz gut zu wissen, dass auch für die höchsten deutschen Gerichte gilt, was angeblich der gute alte Otto von Bismarck, wahrscheinlich aber eher Mr. John Godfrey Saxe (siehe hier) schon 1869 gesagt hat: "Gesetze sind wie Würste, man sollte besser nicht dabei sein, wenn sie gemacht werden."

Was die Sache an sich aber nicht besser macht. Wieso fliegt eigentlich der für alle sichtbare Hauptmangel der Justiz, nämlich das "Zu viele Fälle, zu wenig Richter" für die selbst gesetzten hohen Standards der Rechtsstaatlichkeit so sehr unter jeglichem Radar, dass er immer nur am Rande erwähnt und selten als Grundübel des Ganzen benannt wird? Weil die Schnittstellen des Einzelnen mit der Justiz zu klein sind? Und es keine Partei gibt, die da etwas Sinnvolles für die nächsten Wahlen anzubieten hätte? Und man es einfach als gottgewollt schicksalsergeben hinnimmt, wenn mal wieder das Fahrrad geklaut wird, und der nette Polizist völlig sinnlos die Anzeige aufnimmt und dann in den Papierkorb wirft, weil eh keine Zeit dafür ist?

Noch eine Kostprobe der Kritik des Bundesrichters von oben am eigenen System? Bitteschön:
"Was würden Sie davon halten, wenn Auszeichnungen für Bücher oder Noten für Examensarbeiten, Entscheidungen über Schadensersatz oder Einweisungen in die Psychiatrie oder über Ihr Sorgerecht an Ihren Kindern von Menschen getroffen würden, die niemals auch nur eine Zeile der Arbeit oder der Sachakte oder Ihrer Schriftstücke gelesen haben? Was würden Sie sagen, wenn über Ihre Klagen Richter entschieden, die weder Sie selbst gehört noch auch nur von Ihren Schriftsätzen jemals Kenntnis genommen haben, sondern sich deren Inhalt von Dritten "kurz zusammenfassen" ließen?
Das Imperium: Kritik und Praxis und so weiter
So einfach geht das alles natürlich nicht. Man kann sich nicht mit dem Sonnenwind anlegen ohne das Risiko der Verbrennung. Wer am Strand bei Ebbe einen Graben gräbt, wird bei Flut sein blaues Wunder erleben. Solche und ähnliche Metaphern fallen dem ein, der über strukturelle Kritik an der Justiz nachdenkt.
Denn: 1. geht das gar nicht; 2. haben wir es schon lange anders gemacht; 3. werden wir es doch wohl nicht umsonst anders gemacht haben; 4. willst Du doch wohl nicht sagen, wir hätten es absichtlich anders gemacht; 5. meinst Du wohl, Du wärst besonders schlau; 6. meinst Du wohl, Du könntest Dich auf unsere Kosten wichtigmachen; 7. muss man schließlich auch mal an die Außenwirkung denken; 8. hatten wir kürzlich einen Fall, in dem es anders war; 9. ist das eine Unverschämtheit und muss es auch mal genug sein. Und 10. geht es nicht. [...]
Was bleibt? Was ist nun eigentlich das inhaltliche Argument, mit dem das gesetzliche "Fünf-Richter-Prinzip" bekämpft wird? Inhaltlich, nach Abzug aller Albernheiten, bleibt nur eines übrig: Zu viele Fälle, zu wenig Richter. "Sag er ihm, er könne mich im Arsche lecken", lässt der gesetzliche Revisionsrichter dem Herrn Angeklagten ausrichten, der meint, er könne seine Gedanken fünf Richtern schriftlich vortragen."
Die gesamte Kolumne findet Ihr hier: Thomas Fischer: Die Augen des Revisionsgerichts.

Chapeau, Herr Bundesrichter!

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