Praxis der Strafprozessordnung: Videovernehmung - BGH 3 StR 84/16
Da hat der BGH aus meiner Sicht eine große Chance liegen
lassen, die Videovernehmung in der strafrechtlichen Hauptverhandlung praxisnah zu gestalten, und sich für das so
genannte „Englische Modell“ und gegen das „Mainzer Modell“ entschieden: 3 StR 84/16.
Was meint das?
Nach dem „Mainzer Modell“ hatten Gerichte es für
praxisgerecht erachtet, dass der Vorsitzende besonders sensible
Zeugenvernehmungen im Wege der Videotechnik alleine mit dem Zeugen in einem anderen Zimmer durchführt und diese „live“ in die Hauptverhandlung übertragen werden,
so dass die übrigen Verfahrensbeteiligten darauf reagieren und gegebenenfalls
Fragen stellen können (Übersicht bei BGH aaO.).
Dann kam der Gesetzgeber und hat 1998 den § 247 a StPO
eingeführt, der die Videovernehmung in der Hauptverhandlung regelt.
Nach der Auslegung durch den BGH (aaO.) habe der Gesetzgeber sich damit
für das so genannte „Englische Modell“ entschieden, nachdem nur der Zeuge
(gegebenenfalls mit Hilfspersonen) in einem separaten Zimmer vor der
Videokamera sitzt, und alle anderen Verfahrensbeteiligten im Sitzungssaal.
Nach dem Wortlaut der Norm ist das zwar nicht zwingend, denn die lautet: „...so
kann das Gericht anordnen, daß der Zeuge sich während der Vernehmung an einem
anderen Ort aufhält“, über den Aufenthalt des Vorsitzenden steht da nichts. Da
die Strafprozessordnung aber gleichzeitig gemäß § 226 StPO fordert, dass die
Mitglieder des Gerichts während der gesamten Hauptverhandlung (wie auch die
Staatsanwaltschaft) anwesend sein müssen, folgert der Bundesgerichtshof daraus, dass
der Vorsitzende sich auch für eine Zeugenvernehmung nicht körperlich aus der
Hauptverhandlung entfernen darf (BGH aaO.).
Auch das ist aus meiner Sicht nicht zwingend (immerhin nimmt der
Richter auch im Vernehmungszimmer an der Hauptverhandlung teil, nur eben über
den Rückkanal) und darüber hinaus auch wenig praxisnah. Denn die audiovisuelle
Zeugenvernehmung nach § 247 a StPO ist per se eine ganz besondere Situation,
die nur in ganz eng umgrenzten Ausnahmefällen angeordnet werden darf. Und zwar
sind das solche, in denen für den zu vernehmenden Zeugen / die zu vernehmende
Zeugin per definitionem einer außergewöhnliche Konflikt- oder Stresssituation
besteht, denn die Video-Vernehmung darf nur angeordnet werden, wenn sonst
schwerwiegende Nachteile für den Zeugen/die Zeugin dringend zu befürchten sind
(§ 247a StPO). Wenn der Zeuge oder die Zeugin aber ohnehin schon in einer
solchen Ausnahmesituation ist, vergrößert es nach meiner Erfahrung den Stress
noch sehr viel mehr, wenn er/sie – quasi „alleine gelassen“ – vor einer
unpersönlichen Kamera sitzt.
Auch wenn man die Rolle und der Einfluss des Vorsitzenden
bei einer Zeugenvernehmung nicht überschätzen sollte, so ist es nach
meiner Erfahrung doch immer noch der direkte menschliche Kontakt, der die
Stresssituation für den Zeugen eher tragbar macht. Es ist eben immer noch etwas
anderes, ob ich als Zeuge einem Menschen gegenüber sitze, oder nur einer
Kamera. Zwar dürfte es für den gefährdeten Zeugen bereits
eine Erleichterung sein, dass dieser nach allgemeiner Auslegung Hilfspersonen
zur Vernehmung mitbringen kann, das ändert aber nichts daran, dass seine
schwierige Situation durch die vom BGH favorisierte Form der audiovisuellen Vernehmung nicht gerade verbessert wird.
Die Wertung des BGH passt aber auch aus einem ganz anderen
Grund nicht richtig in das System der Strafprozessordnung. Denn im
Ermittlungsverfahren kann die Vernehmung nach dem „Mainzer Modell“ sehr wohl
durchgeführt werden. § 168 e StPO ermöglicht dem Ermittlungsrichter genau dies:
er kann sich mit dem Zeugen in ein Vernehmungszimmer oder eine ganz andere viel
angenehmere Umgebung setzen und die Vernehmung dort durchführen und
aufzeichnen. § 255 a StPO sichert gleichzeitig dem Angeschuldigten und seinem
Verteidiger das Teilnahme- und Fragerecht.
Sollte sich also in der Praxis herausstellen, dass ein Zeuge
nur im direkten Gespräch mit einem einzelnen Richter zur Aussage bereit oder in
der Lage ist, so wäre die wenig praxisgerechte Folge, dass das Gericht das
Verfahren aussetzen und den Zeugen/die Zeugin gemäß §§ 168 e, 162 Abs. 3 StPO als
Ermittlungsrichter nach dem Mainzer Modell vernehmen müsste, um das Verfahren
dann erneut durchzuführen. Vielleicht sollte der Bundesgerichtshof einmal bedenken,
ob der Gesetzgeber das wirklich gewollt haben kann.
Denn dass die körperliche Nichtanwesenheit des Vorsitzenden
der Hauptverhandlung bei der Durchführung der audiovisuellen Vernehmung nach §
147 a StPO tatsächlich einen absoluten Revisionsgrund darstellt, ist aus meiner
Sicht eben gerade nicht zwingend. Die audiovisuelle Vernehmung stellt ohnehin
einen Bruch der üblichen Regeln für die Hauptverhandlung dar und kann daher im
Rahmen, den die Verfassung und die Strafprozessordnung abstecken, interpretiert
werden.
Den Strafrichtern hat der BGH mit seiner Auslegung eher
Steine statt Brot gegeben.
Und dass das Verfahren jetzt nur deswegen neu begonnen werden muss, weil das Gericht sich für die eine Lösung und gegen die andere Lösung entschieden hat, ist ohnehin nur schwer vermittelbar.
Und dass das Verfahren jetzt nur deswegen neu begonnen werden muss, weil das Gericht sich für die eine Lösung und gegen die andere Lösung entschieden hat, ist ohnehin nur schwer vermittelbar.
Man verdeutliche sich den Unterschied nur einmal anhand
eines Extremfalles, der aber nicht so selten ist: Wenn der Strafrichter bspw. ein sechsjähriges Kind als Opferzeugen
vernehmen muss, ist das ohnehin schwierig und sensibel genug. Nach der Lösung
des BGH sitzt dieses Kind nun, hoffentlich begleitet von einer
Vertrauensperson, einer Kamera gegenüber und schaut dort auf einen Sitzungssaal
mit vielen Verfahrensbeteiligten. Nach dem Mainzer Modell würde es dagegen
einem Richter oder einer Richterin direkt gegenüber sitzen und in die Augen
sehen können. Auch wenn ich kein Kinderpsychologe bin, ist diese Situation aus
meiner laienpsychologischen Sicht und Erfahrung für das betroffene Kind
deutlich leichter zu bewältigen als die andere Variante.
Der Bundesgerichtshof wird sich von seiner harten Linie nun aber kaum
abbringen lassen (Was befürchten die eigentlich? Dass das Gericht sich
demnächst einfach per Skype in die Hauptverhandlung dazu schaltet?). Hilfsweise
geht daher der Appell an den Gesetzgeber. Tut was!
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